Der Laubmaus erstes Weihnachtsfest

Raschel, raschel, raschel! Das Laub auf einer kleinen, noch sonnigen Lichtung im kleinen Braunfroschhausener Wald bewegte sich plötzlich. Ein kleines feuchtes Näschen und lila Schnurrhaare kamen zum Vorschein, dann die rostbraunen Augen, dann die zarten, fast durchsichtigen rosa Ohren, dann das gelb-orange gesprenkelte Fell, dann der Schwanz. Jetzt war die ganze Laubmaus sichtbar, die die nach Erde und Laub riechende Luft durch ihre nicht zur Ruhe kommende Nase einsog. Sie war aus ihrem langen Schlaf, der fast das ganze Jahr über dauerte, erwacht. Im September weckten sie die letzten warmen Herbstsonnenstrahlen und der Geruch des feuchten Laubes – dann mußte sie ihre gemütliche Wohnhöhle verlassen und ihre Vorratskammern mit Laub auffüllen und ihr Schlummerbettchen mit Laub auspolstern. Sie werkelte und knabberte und naschte dann solange im Wald herum, bis der erste Schnee fiel – das war zumeist im Dezember, aber immer vor Weihnachten -, um dann wieder in ihre Höhle zurückzukehren, sich einzurollen wie ein Rollmops und bis zum nächsten September zu schlummern.Diesmal aber wollte die Laubmaus unbedingt zu Weihnachten wach sein und mit den anderen Tieren im Wald feiern. Das hatte sie sich ganz fest vorgenommen. Jeder erzählte ihr immer so schöne Dinge von Weihnachten, daß es Geschenke gab, viele Leckereien und daß es immer so gut roch. Drum wollte sie nun den ganzen Braunfroschhausener Wald durchstreifen und alle Nachbarn einladen, mit ihr Weihnachten zu feiern.

Der erste, den sie traf, war Wedlo, der herrenlose, semmelfarbene Hund, der des öfteren in den Wald kam, wenn ihm in der nahen Stadt, in der er die Menschen anbettelte um ein Stückchen Wurst oder Fleisch, niemand mehr etwas zu fressen gab.

„Wedlo!“, sprach die Maus, „ich möchte dieses Jahr unbedingt zu Weihnachten munter bleiben und mit Euch feiern. Willst Du mich nicht aufwecken und mit mir feiern? Ich werde uns selbstgemachten Laubwein, ein ganz besonderer Jahrgang, kredenzen. Und vielleicht kann ich uns auch ein Stück Wurst besorgen. Ich kenne einen Weg, wo im Herbst die Schulkinder auf ihren Wandertagen durch den Wald marschieren und oft ihre Jausenbrote verlieren, die ganz Dummen sogar absichtlich wegwerfen. Willst Du mit mir feiern, ja, willst Du?“

„Wau!“, bellte Wedlo ganz müde, „ich hab leider schon was vor zu Weihnachten! Der Fuchs hat mich eingeladen, mit ihm zusammen auf Steakpilzjagd zu gehen und die Beute dann gemeinsam zu verspeisen. Der Fuchs kennt Plätzchen mit den saftigsten Steakpilzen, und ich möchte soo gerne wieder einmal meinen Magen voll kriegen. Vielleicht ein anderes mal. Auf wiederwuff!“ Mit diesen Worten verschwand Wedlos ockergelbe Schwanzspitze, die auf und ab wackelte wie ein Taktstock, im Dickicht. Dazu muß man sagen, daß sich die Tiere in Braunfroschhausener Wald nicht gegenseitig auffraßen. Die Laubmaus lebte einträchtig neben Willi Wildkatz, und Ferdinand Frischling spielte sogar manchmal mit Rotpelz Fuchs Karten. Und als besonderer Leckerbissen wuchsen die begehrten, aber schwer zu findenden Steakpilze im Wald, der die Speisekarte unserer Freunde bereicherte.

Schade, dachte die Laubmaus, aber es sind noch so viele Tiere im Wald, irgendwer wird schon für mich Zeit haben!

Da tuckerte gerade Stachlitschku, der Igel des Wegs. „Grmlgrmlgrrrrrmurrrgrrr“ machte Stachlitschku. Bei ihm war man nie sicher, ob er mit sich selbst sprach, gerade über etwas fluchte oder einfach nur sein typisches Igelmotorengeräusch von sich gab.

„Stachlitschku, willst Du nicht mit mir Weihnachten feiern? Du kriegst den besten Laubwein von mir, und ich kann sicher ein paar überreife Äpfelreste auftreiben. Machen wir uns ein gemütliches Fest?“

„Grummelmummel, geht leider nicht, ich bin beim Kongress der Schneehasser eingeladen und muss dort mein selbstverfasstes Antischnee-Epos vortragen: Die Odyschnee!“ Und mit mal leiser, mal lauter werdendem Tuckern setzte der Igel seinen Weg fort.

Na ja, kann man nichts machen. Ich werde schon noch Gesellschaft finden, dachte sich die Laubmaus und hüpfte ein Stück weiter. Sie kam an einem alten, hohlen Baumstumpf vorbei. Das war der Wohnbau – oder besser gesagt das Wohnloch – von Ivan Iltis. Da drin stinkt’s zwar immer ein bißchen, aber ich werde trotzdem anklopfen, sagte sich die Maus.

„Ja, wer ist da draußen?“ näselte es von drinnen, nachdem die Laubmaus ganz schüchtern geklopft hatte.

„Die Laubmaus ist da. Die Laubmaus möchte dich ganz, ganz gerne zu Weihnachten einladen. Und es wird selbstgemachten Laubwein geben, und gegrillte Nüsse und Kastanien und alles was Du magst! Magst Du nicht zu mir kommen?“

„Papperlapapp!“ quäkte der Iltis. „Bin leider schon woanders, will sagen, ich mache eine Kur. Mein Geruch läßt etwas nach, ich stinke schon fast gar nicht mehr und muß mich behandeln lassen. Deshalb hab ich mich entschlossen, mich in Oberstinkenbrunn kurieren zu lassen!“

„Schade!“ sagte die Maus und wunderte sich darüber, denn es stank ihrer Meinung nach noch genug. „Dann wünsche ich dir gute Besserung!“

Hopp und hopp und hoppsassa hüpfte Nyuszi Nyuli, der Hase, durch die Gegend.

„Hallo Nyuszi, willst du mit mir Weihnachten feiern? Ich habe feinsten selbstgemachten Laubwein und du kriegst auch Karottenkuchen und was dir schmackt! Bitte bitte!“

„Keine Zeit, keine Zeit!“ antwortete der Hase ohne stehenzubleiben und hüpfte in langen Sätzen Richtung Schmatzwiese, wo um diese Zeit die saftigsten Gräser und Kräuter wuchsen.

Vielleicht treffe ich auf der Schmatzwiese noch jemanden, den ich fragen kann, dachte sich die Maus und schlug dieselbe Richtung ein, in der Nyuszi Nyuli soeben verschwunden war.

Auf der Schmatzwiese erwärmten die Sonnenstrahlen, die gleichzeitig die letzten des Tages und der Jahreszeit waren, die leckeren Kräuter, das Fell von Nyuszi Nyuli, der schon mitten im Mampfen war, und den gestreiften Kittel von Ferdinand Frischling, der auch gerade sein Abendessen zu sich nahm.

„Grüß dich, Frischling,“ sagte die Maus, „willst Du nicht mit mir Weihnachten feiern? Ich habe den besten Laubwein im ganzen Braunfroschhausener Wald und mache dir den leckersten Kartoffelsalat, denn du je gefressen hast. Sogar mit marinierten Eicheln.

„Guten Tag, Laubmaus! Vielen Dank für die Einladung, aber du weißt ja – jetzt kommt die Zeit, wo die verrückten Menschen aus der Stadt durch die Wälder ziehen und nach uns wehrlosen Wesen schießen, um uns dann zu verspeisen. Da wandere ich immer weit, weit weg und komme erst im Frühjahr zurück. Aber ich wünsche dir ein frohes Fest!“ erwiderte Ferdinand Frischling.

„Aber wie soll ich ein frohes Fest haben, wenn niemand mit mir feiern will!“ sagte die Laubmaus weinerlich und trotzig, halb zu sich selbst und halb zu Ferdinand Frischling, der aber schon am Waldrand verschwand. Auch die Laubmaus kroch wieder in den Wald zurück, denn es wurde langsam dunkel.

Auf samtigen Pfoten lief ihr Willi Wildkatz über den Weg, der gerade zu seinem Hochsitz unterwegs war, von wo aus er die halbe Nacht den Wald mit seinem verstimmten Katzengeschrei quälte, das er selbst als künstlerischen Gesang bezeichnete.

„Willi Wildkatz,“ flehte die Laubmaus, schon beinahe verzweifelt, „willst du nicht mit mir Weihnachten feiern? Mein Laubwein ist so gut und macht so lustig, und du kriegst gebackene Leberpilze bei mir. Und wir singen ein paar Weihnachtslieder. Wirst Du kommen, ja?“

„Miau, miau, miau, ich bedauere außerordentlich,“ erwiderte Willi Wildkatz mit stolzem Unterton in der Stimme, „aber du kennst doch die bekannte Oper ‚Der gestiefelte Kater‘. Bei der Weihnachtsaufführung bin ich der Star. Und ich muß jetzt für meine Rolle üben. Also geh mir bitte aus dem Weg, Mäuslein!“

Die Laubmaus kannte zwar die Oper nicht, aber sie war eben nur eine kleine Laubmaus die nicht viel von der Welt wußte, weil sie ja nicht viel sah und hörte, da sie den größten Teil des Jahres verschlief. Darum wollte sie wenigstens einmal Weihnachten erleben.

Da sah sie plötzlich im Dickicht Füchschen Rotpelz herumschleichen. Sie wollte ihn fragen, ob sie nicht vielleicht auch bei der gemeinsamen Pilzjagd mitmachen dürfte, zu der der Fuchs Wedlo, den Hund, eingeladen hatte. Sie wollte die Steakpilze mit ganz kräftigem Laubmausqietschen aus ihren Verstecken hervorlocken.

„Fuchs, hallo, Rotpelz! Komm bitte her!“ schrie die Laubmaus so laut sie es bei ihrem kleinen Körper nur vermochte.

Rotpelz kroch aus dem Dickicht. „Was ist?“ grunzte der Fuchs etwas säuerlich, weil man ihn beim Anschleichen entdeckt hatte – ausgerechnet beim Anschleichen, wo ein Fuchs normalerweise ganz und gar unsichtbar sein müsste. Wenn sich das herumsprach, war sein Ruf als Schleicher ruiniert!

„Fuchs, Du bist der letzte, den ich fragen kann! Ich möchte gerne mit jemandem Weihnachten feiern. ….!“ Aber der Fuchs unterbrach sie sofort.

„Keine Zeit, Laubmaus, ich bin…, tja, ich bin in Übersee bei meinem Vetter, dem Schakal. Vielleicht das nächste Mal!“ Und weg war er.

Da dachte die Laubmaus nach, und es wurde ihr plötzlich so schwer ums Herz, sie mußte sich auf der Stelle niederlassen, und kleine, silberne Tränen rollten ihr über das scheckige Fell.

„Der Fuchs feiert ja gar nicht mit Wedlo, und wahrscheinlich ist er auch nicht bei seinem Vetter, und Stachlitschku nicht bei seinem Kongreß und… alle haben mich angelogen und eine Ausrede gesucht, damit sie nicht mit mir Weihnachten feiern müssen. Es mag mich eben keiner!“

Und langsam und überaus traurig schleppte sie sich den Weg zurück zu ihrer Wohnhöhle. Sie hatte noch nicht einmal ihr Kuschelbettchen neu ausgepolstert. Sie wollte einfach nur wieder schlafen, ganz tief und lang, und alles vergessen. Und sie kroch auf die Laubmatratze, unter die Laubdecke, rollte sich ein, steckte das Näslein tief in ihr Fell, schluchzte noch einige Male und schlief ein. Und der erste Schnee fiel, und die Laubmaus träumte einen langen, weißen Traum, und manchmal kullerten ihr im Schlaf ein paar Tränen über die Mausebacken, und sie schlief und schlummerte und ….

Plötzlich träumte sie, daß es ganz laut klopfte und daß sie Glöcklein hörte und schönen Gesang wie von Mausekinderstimmen. Aber nein, sie träumte es nicht. Sie schlug die kleinen Äuglein auf und guckte unter der Laubdecke hervor. Es klopfte wirklich, und es klingelten wirklich Glöcklein, und ein kleiner Spitzmauskinderchor sang „Leife riefelt der Fnee“.

Die Laubmaus rieb sich die Augen und kroch müde und noch immer traurig aus ihrem Schlummerbettchen. Doch was sah sie, als sie das große Ahornblatt, das die Türe zu ihrer Wohnhöhle war, beiseite schob? Alle standen da vor ihrer Höhle, Wedlo, der semmelfarbene Hund, Stachlitschku, der Igel, Ivan Iltis, Nyuszi Nyuli, der Hase, Ferdinand Frischling, Willi Wildkatz und auch Rotpelz Fuchs – alle waren sie gekommen. Alle hatten ihr Fell fein säuberlich geputzt, Stachlitschku hatte seine Stacheln so poliert, daß man sich drin spiegeln konnte, und sogar Ivan Iltis stank etwas weniger erbärmlich. Und alle hatten ein Geschenk für die Laubmaus dabei.

„Ja,“ sagte der Fuchs, „liebe Laubmaus, wir wünschen Dir alles Gute zu deinem ersten Weihnachtsfest. Wir wollten dich überraschen, darum haben wir alle deine Einladung abgelehnt. Aber hier sind nun unsere Geschenke, und du freust dich hoffentlich ein bißchen.“ Und bei diesen Worten überreichte einer nach dem anderen der Laubmaus sein Geschenk. Die Laubmaus war ganz gerührt und konnte es gar nicht glauben. Sie kam gar nicht nach mit dem Auspacken, und ihre Wohnhöhle war schon fast voll von Geschenken. Und es waren alles nützliche Dinge, entweder zum Essen oder etwas für die Küche, oder neue Eichenkappenschälchen für den Laubwein.

„Und jetzt gehen wir alle zu mir in meinen Wohnbau und feiern und essen und trinken“, sagte der Fuchs, „denn hier bei dir ist es zwar gemütlich, aber ein bißchen eng für uns alle. Und übrigens – nimm ein paar Flaschen von deinem Laubwein mit!“

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Datum: Sonntag, 23. Dezember 2007 19:36
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